01.07.2025, 07:52 - Wörter:
Lagerhalle von Potages Kesselladen

Am Ende der Winkelgasse, ganz nah am Schatten der großen Ladenfronten, verkauft “Potages Kesselladen” gebrauchte und neue Kessel, gestapelt bis unter die Decke. Neben dem Gebäude zieht sich eine Mauer entlang, auf der ein verblichenes Bild eines Zauberers wacht.
Nur wer das Geheimnis kennt, legt dem Zauberer sanft die Hände auf die Augen, erweckt so die Mauer zum Leben und darf durch den schmalen Spalt treten, der sich für einen Wimpernschlag öffnet. Dahinter liegt eine enge Seitengasse, in der keine zwei Menschen nebeneinander stehen könnten. Am Ende dieser Gasse wartet die große Lagerhalle von “Potages Kesselladen”, angefüllt mit nichts als verstaubten Kesseln. Zumindest bei Tage.
Doch wenn die Schatten tiefer werden und das Treiben in der Winkelgasse längst verstummt ist, öffnet ein Mitarbeiter des Kesselladens zwei Mal die Woche - immer dienstags und donnerstags - nach 22 Uhr heimlich das schwere Hallentor. Dann verwandelt sich der kühle Lagerraum in einen geschützten Zufluchtsort. Es wird zu einem geheimen Treffpunkt für queere Männer und grundsätzlich alle, die lieben wollen, wie sie es fühlen, ohne sich verstellen zu müssen. Hier wird getanzt, gelacht, getrunken, geredet; Butterbier und Elfenwein fließen, ein knisternder Plattenspieler füllt die Halle mit leiser Musik, während draußen die Nacht über die Gasse wacht.
Die Existenz dieses Ortes verbreitet sich vor allem durch Mundpropaganda; nur wer jemanden kennt, der bereits einen Fuß in die Lagerhalle gesetzt hat, weiß von dem Geheimnis im Schatten der Winkelgasse. Wer Glück hat, erhält in der Buchhandlung “Artemis’ Grove” sogar einen Tipp.
Spätestens um drei Uhr schließt der Mitarbeiter die schwere Tür wieder, räumt die leeren Flaschen weg, verstaut den Plattenspieler zwischen rostigen Kesseln und tilgt jede Spur dessen, was dort war. Bisher ist er noch nie aufgeflogen, und er passt gut auf. Wenn es doch einmal unsicher wird - wenn die Ladenbesitzerin Überstunden macht oder ein Kunde zu lange bleibt - warnt er seine Gäste mit einem stillen Zeichen. Dann hängt er nämlich ein Plakat über den gemalten Mund des Zauberers an der Mauer. Ein stummer Hinweis: Heute Nacht bleibt die Halle leer, und der Zauber, für ein paar Stunden frei zu sein, muss warten.
Doch solange der Zauberer auf der Mauer seine Augen schließen darf, wird hinter ihm ein kleines Stück Freiheit weiterleben. Verborgen, zwischen staubigen Kesseln, leiser Musik und der Hoffnung, dass irgendwann niemand mehr durch Mauern schlüpfen muss, um einfach man selbst sein zu dürfen.